Lampedusa Insel der Rettung, Insel des Schreckens. Auf Lampedusa ist jede Änderung der europäischen Flüchtlingspolitik sofort spürbar. Jetzt kommen immer weniger Asylbewerber an. Warum ist das so - und was macht das mit der Insel?

  • Der folgende Text gehört zur Langzeitserie "The New Arrivals", bei der SPIEGEL ONLINE gemeinsam mit "The Guardian", "El País" und "Le Monde" neue Perspektiven auf europäische Flüchtlingspolitik recherchiert. Das Projekt wird durch das European Journalism Centre (EJC) mit Mitteln der Bill und Melinda Gates Foundation unterstützt.

    Abends um halb zehn, wenn die Hitze abnimmt und die Bewegungen erträglicher werden, erwacht das Leben in der Fußgängerzone von Lampedusa. Männer schieben sich im Anzug, Frauen in Highheels durch die Via Roma zum Essen in Restaurants, zum Shoppen an den Ständen, an denen Badetücher Made in Indiaund Schlüsselanhänger verkauft werden.

    Jeden Sommer kommen im Juli und August Tausende italienische Touristen aus den Städten auf die Insel im Mittelmeer: ein Flecken aus Stein, 140 Kilometer vom afrikanischen Festland, 250 Kilometer vor Sizilien, 6000 Einwohner auf nur 20 Quadratkilometern. Außer schroffen Felslandschaften, wildem Fenchel und Schildkröten gibt es auf der Insel nicht viel zu sehen. Aber der Fisch in den Restaurants ist frisch, und das Wasser klar wie eine Glasmurmel.

    Die Touristen sind die einen Fremden, die im Sommer auf die Insel kommen. Die anderen treffen sich an diesem Juliabend am Ende der Fußgängerzone, wo sich der Blick auf den Hafen und das Meer eröffnet, zu dritt, viert, nie alleine: Flüchtlinge, die von der italienischen Küstenwache hergebracht wurden, Sudanesen, Eritreer, Ivorer sind unter ihnen. Sie dürfen das Auffanglager, das einige Kilometer vom Stadtzentrum liegt, offiziell nicht verlassen. Aber es gibt ein Loch im Zaun, und die Sicherheitskräfte gucken nicht genau hin.

    "Es ist gut hier, die Leute sind freundlich und die Straßen sauber", sagt einer, der sich als Robert vorstellt, ein 19-jähriger Eritreer im Barcelona-Trikot mit kurzen Haaren und einem fernen Blick, als wäre sein Körper hier angekommen, aber sein Kopf noch nicht. Er erzählt, dass er durch die Wüste über Niger in ein libysches Lager kam, "das sehr schlimm war", sein Blick verschließt sich sofort. Auf dem Meer wurde er schon nach wenigen Stunden von einem Handelsboot gerettet und der Küstenwache übergeben. Wenn er mit der Fähre weitergebracht wird nach Sizilien, will er nach Deutschland, zu einem Bruder in Duisburg.

    Es kann gut sein, dass Robert vorerst einer der letzten Migranten ist, die den Weg von Libyen über das Mittelmeer genommen haben. Die italienische Regierung will die Mittelmeerroute ganz schließen, libysche Kräfte haben eine riesige Meeresfläche zu ihrem Quasi-Hoheitsgebiet erklärt. Im August ist die Zahl der Flüchtlinge, die auf dem Seeweg nach Italien kommen, drastisch gesunken.

    Laut der NGO Mediterranean Hope, die auf Lampedusa die Flüchtlingsbewegungen beobachtet, sind im Moment noch 80 bis 90 Flüchtlinge auf der Insel, maximal vier Tage bleiben sie offiziell, tatsächlich sind es manchmal aber auch mehrere Wochen. Ein Bruchteil der Menschenmengen, die 2015 und 2016 in den Sommermonaten über die Insel nach Europa reisten. "Was neu ist: Menschen kommen vermehrt aus Tunesien an", sagt Alberto Mallardo, der seit mehr als zwei Jahren für Mediterranean Hope auf Lampedusa arbeitet. "Es ist noch kein Riesenphänomen, aber auffällig." 250 erreichten im August Lampedusas Nachbarinsel Linosa - in stabilen Kuttern, nicht in den Gummibooten, die in den vergangenen Monaten aus Libyen starteten und nur auf kurze Strecken und schnelle Rettung ausgelegt waren.

    Der Schrecken rückte in die Ferne

    Änderungen der EU-Migrationspolitik spürt man auf Lampedusa sofort. Schon Anfang des Jahrzehnts wurde die Insel zum Symbol europäischer Migrationspolitik - und vor allem zum Symbol ihres Versagens, weil die Risiken und der Schrecken der Bootsflucht sich hier so eindrücklich zeigten. Als am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa 368 Menschen ertranken, nur 800 Meter vom Hafen entfernt, gingen die Bilder von den aufgebahrten Toten um die Welt. Als Konsequenz aus der Katastrophe rief Italien die inzwischen eingestellte Rettungsaktion "Mare Nostrum" ins Leben.

    "Wir waren für die Welt immer nur gut oder schlecht," sagt Nino Taranto, ein elegant gealterter Herr in weißem Anzug, der das Inselarchiv am Ende der Fußgängerzone betreibt. Draußen sammeln sich abends junge Afrikaner, weil sich schnell rumspricht, dass Taranto jeden mit offenen Armen empfängt und seinen Internetzugang teilt. "Wir waren erst die Insel des Schreckens und dann plötzlich die der Helfer. Aber nichts dazwischen." 

    Als sich die Rettungaktionen in den vergangenen Jahren zunehmend von den europäischen Küsten ins Meer verlagerten, rückte der Schrecken in die Ferne, auch das öffentliche Interesse nahm wieder ab. Die Flüchtlinge kamen weiter an auf Lampedusa, aber nicht mehr in eigenen Booten, sondern in denen der Küstenwache. Und sie wurden weniger sichtbar im Stadtbild, weil die Weiterleitung in die Auffanglager professionalisiert wurde, glatter lief.

    in Restaurantbesitzer, der anonym bleiben will, sagt, es würde ihn freuen, wenn jetzt weniger Flüchtlinge kämen, die hätten die Touristen abgeschreckt. Tatsächlich steigen die Touristenzahlen zwar schon seit 2013 wieder, und einzelne Hotelbesitzer profitierten davon, dass durch die Flüchtlinge das ganze Jahr über Sicherheitskräfte auf der Insel stationiert sind. Aber das Gefühl, von Medien zur Flüchtlingsinsel stilisiert worden zu sein, hält sich. 

    Von der Frau, die wie keine zweite Lokalpolitikerin in den vergangenen Jahren zum Gesicht einer humanitären Flüchtlingspolitik wurde, hatten die Leute auf Lampedusa genug: Im Juni wählten sie ihre Bürgermeisterin Giusi Nicolini ab. Die Mitte-links-Frau war 2012 weltweit bekannt geworden, als sie einen offen Brief an Europa richtete: "Ich frage Sie alle: Wie groß soll der Friedhof meiner Insel werden?" Nicolini empfing den Papst auf der Insel und besuchte Barack Obama im Weißen Haus, bekam den Friedenspreis der Unesco.

    Bei den Kommunalwahlen landete sie aber nur auf dem dritten Platz, hinter einem Kandidaten der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung. Es gewann ein Ex-Kommunist, der als Verwalter gilt und versprach, sich wieder um Lokales statt um internationale Politik zu kümmern. Selbst die, die sich engagierten für die ankommenden Flüchtlinge, stehen heute nicht mehr hinter Nicolini: "Sie hat sich vor allem selbst präsentiert", sagt Taranto. "Es ging um den Schein." 

    Das Gefühl, vergessen worden zu sein

    Spricht man mit den Anwohnern, entdeckt man bei vielen das Gefühl, vergessen worden zu sein: Die Straßen sind an vielen Stellen schlecht. Schwangere müssen sich für mehrere Tausend Euro ans Festland fliegen lassen, weil es keinen Kreißsaal gibt. Ein großes Problem auf der Insel ist die Abwasserentsorgung, die bis heute nicht richtig funktioniert.

    Lillo Maggiore glaubt, dass die Flüchtlinge Lampedusa verändert haben. "Die Leute haben gelernt, dass die Geflüchteten Menschen sind, sie sind wach geworden für die Welt." 

    Als er am 3. Oktober 2013 morgens im Radio von dem Unglück hörte, ging Maggiore, ein Schulbeamter, der jeden Satz mit viel italienischer Gestik begleitet, nicht zur Arbeit, sondern zum Hafen. Und umarmte jeden, der ihm entgegenkam. "Ich konnte nicht so weiterleben wie bisher." Am Abend sprach Maggiore mit seiner Frau und den zwei Töchtern und entschied, die Vormundschaft für einen minderjährigen Flüchtling zu übernehmen: "Den Sohn, der in der Familie noch gebraucht wurde, brachte nicht der Storch, sondern das Meer." 

    Seit Anfang 2014 wohnt Seydou bei ihnen, ein 17-jähriger Senegaler, der durch "Mare Nostrum" gerettet wurde. Er ist einer von drei Flüchtlingen, die tatsächlich auf der Insel leben. Seydou geht zur Schule und will sich auf Hotelfachwesen spezialisieren, im Moment bedruckt er als Sommerjob Schildkrötenshirts. Mit Journalisten mag er nicht sprechen. Maggiore sagt, er sei schüchtern; vielleicht will er auch einfach die Vergangenheit ruhen lassen.

    Das größte Vorurteil der Anwohner von Lampedusa sei eigentlich immer gewesen, dass er einen Teenagerjungen mit seinen Töchtern zusammenbringe, sagt Maggiore. "Aber Seydou ist einfach ein Bruder für sie." Auch das hätten die Menschen gelernt.